Psychologie

"Landkarten" zum gegenseitigen Verstehen

Psychologie Psychologie für den Alltag Das Ganze sehen

Psychologie für den Alltag

Die Fähigkeit das Ganze zu sehen

Wenn Menschen beginnen, sich zu einer Gruppe zugehörig zu fühlen, entsteht unter den Gruppenmitgliedern ein Gemeinschaftsgefühl. Es bildet sich ein neues Ganzes mit eigenen Regeln und einer eigenen Dynamik. Verstößt jemand bewußt oder unbewußt gegen diese Regeln, so wird ihm von den anderen mangelndes Gemeinschaftsgefühl nachgesagt. Ja, es kann sogar sein, daß Druck auf ihn ausgeübt wird, der ihn dazu veranlasst, entweder sich den Regeln zu unterwerfen oder aus dieser Gemeinschaft auszutreten.

Kein Mensch kann sich dieser Dynamik entziehen. Sie ist unabhängig von der Art der sich bildenden Gemeinschaft, d.h. sie gilt für eine Familie ebenso, wie für ein Arbeitsteam, eine Sekte oder eine kriminelle Vereinigung. Allerdings können sich die Gruppen in ihren Zielsetzungen und in den Persönlichkeitsstrukturen ihrer Mitglieder erheblich voneinander unterscheiden.
In der Individualpsychologie Alfred Adlers hat der Begriff des Gemeinschaftsgefühls eine viel umfassendere Bedeutung: In ihrem Menschenbild ist Gemeinschaftsgefühl ein Maßstab für "nützliches Sozialverhalten" und "seelische Gesundheit".

Wie ist das zu verstehen?

Der Individuationsprozeß des Menschen beginnt mit seiner Geburt: Jeder Mensch strebt danach, ein einzigartiges unverwechselbares Wesen zu werden, das sich zur menschlichen Gemeinschaft zugehörig fühlt. Das ist vermutlich auch der Grund, weshalb die menschliche Wahrnehmung von Natur aus darauf angelegt ist, Unterscheidungen zu treffen.

Menschen haben nämlich keinerlei Möglichkeit zu erfahren, was "Wirklichkeit" ist. Jeder muß sich seine eigene Wirklichkeit schaffen und benutzt dazu seine Erfahrungen im Umgang mit den von ihm selbst getroffenen Unterscheidungen. Solche "Wirklichkeitskontruktionen" dienen der Orientierung im Leben. Sie sind wie Landkarten, die einem helfen, sich in einem unbekannten Gebiet zurechtzufinden.

Um sich selbst als Individuum erfahren zu können, muß der Mensch lernen, sich von der übrigen Welt abzugrenzen. In diesem Prozeß entwickelt er zunächst ein polares Bewußtsein indem er Gegensätze bildet, z.B. "oben - unten", "einatmen - ausatmen" oder "Ich - Du". Erst mit zunehmender Erfahrung entdeckt der Mensch, daß es auch eine Polarität zur Polarität gibt: die Einheit. Er erkennt, daß er Teil eines größeren Ganzen ist: Er und seine Umwelt gehören zusammen! Im Grunde genommen bildet jedes Polaritätspaar gemeinsam ein Ganzes. Denn: Um zu wissen, was oben ist, muß man wissen, was unten ist. Um ausatmen zu können, muß man zuvor eingeatmet haben. Um zu wissen, wer man selbst ist, muß man erst im Dialog erfahren haben, wer die anderen sind und zu ihnen eine Beziehung entwickeln.

Die Fähigkeit eines Menschen, hinter den erlebten Gegensätzen die größere Einheit, "das Ganze", zu sehen und diese Einheit zu bejahen, diese besondere Art von "Ein"-Sicht nennt die Individualpsychologie "Gemeinschaftsgefühl".

Wer zu einer solchen Erkenntnis fähig ist, gilt als seelisch gesund, denn seine Landkarte "paßt" besser, liegt näher an der Wirklichkeit, die für Adler gleichbedeutend ist, mit der "eisernen Logik des Zusammenlebens". In dem Maß, wie ein Mensch Gemeinschaftsgefühl entwickelt hat, kann er bewußt zum Wohle des Ganzen wirken, kann er sozial nützlich sein.

Für das Gemeinschaftsgefühl gibt es keinen externen Maßstab. Jeder muß den Maßstab dafür selbst entwickeln. Um das Ganze zu sehen, muß er lernen, unterschiedliche Standpunkte einzunehmen und unterschiedliche Sichtweisen zu entwickeln. Einerseits muß er lernen sich einzufühlen, wie Adler sagt, "mit den Augen des anderen sehen, mit den Ohren des anderen hören und mit dem Herzen des anderen fühlen". Andererseits muß er aber auch aus sich heraustreten können, um die Standpunkte von "Ich" und "Du" gleichzeitig zu überblicken und sie zueinander in Beziehung zu setzen, sie in eine Balance zu bringen. Zwischenmenschliche Beziehungen sind jedoch so komplex, daß unser analytisches Urteilsvermögen versagt: Was richtig oder falsch ist, muß mit dem Gefühl entschieden werden, denn eine wichtige Aufgabe unseres Gefühlsvermögens ist, komplexe Zusammenhänge erfassen und bewerten zu können.

Gemeinschaftsgefühl ist situationsgebunden. Es gibt Lebensbereiche, in denen es uns nicht schwerfällt, andere Standpunkte einzunehmen und mehrere Sichtweisen zu entwickeln. Aber in manchen Bereichen ist unser Bewußtsein nicht ausreichend entwickelt. Unser Blickwinkel ist dann eingeengt, wir vermögen das Ganze nicht zu überblicken und stellen unsere eigene Sichtweise in den Vordergrund. Doch nur die Vielfalt unterschiedlicher Sichtweisen und unsere Bereitschaft ständig dazuzulernen ist eine angemessene Antwort auf die Frage, wie wir denn der Gefahr des Irrtums wirkungsvoll begegnen können.

Menschen mit Gemeinschaftsgefühl akzeptieren ihre Abhängigkeit von anderen als natürliche Gegebenheit und schöpfen autonom den ihnen verbleibenden Spielraum voll aus. Solche Menschen sind zur Zusammenarbeit bereit, denn sie erkennen, daß Kooperation ein Wesensprinzip alles Lebendigen ist. Letztlich gibt es für sie, trotz der großen Vielfalt, nur ein Ganzes: das Universum. Konkurrenz ist dagegen eine rein menschliche Erfindung. Sie entspringt der Angst, im Miteinander nicht zu überleben. Menschen, die im Konkurrenzdenken verhaftet sind, haben die Stufe des polaren Bewußtseins noch nicht überwinden können. Für sie gilt nur eines: Entweder Ich - oder Du!

Die Individualpsychologie führt alle Fehlschläge im menschlichen Miteinander auf einen Mangel an Gemeinschaftsgefühl zurück. Deshalb kommt bei ihr der Entwicklung von Gemeinschaftsgefühl eine besondere Bedeutung zu.

Wenn der Mensch auf die Welt kommt, ist sein Gemeinschaftsgefühl zunächst einmal nur eine zukünftige Möglichkeit des "In-der-Welt-Seins", ein potentielles "Seinkönnen". Er besitzt zwar die grundlegende Fähigkeit zum Gemeinschaftsgefühl, doch er muß es erst entwickeln.

Die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls ist ein lebenslanger Prozeß und setzt eine aktive Beteiligung voraus. Die erste Chance eines Menschen zur Entwicklung seines Gemeinschaftsgefühls liegt in der frühen Phase seiner Kindheit. Je nach den Randbedingungen, die er in seiner Familie vorfindet und seiner schöpferischen Kraft damit umzugehen, kann er lernen, unterschiedliche Sichtweisen zu integrieren und dadurch "passende" Wirklichkeitskonstruktionen für die Bewältigung des Lebens zu finden. Kooperative Erziehungsstile können diesen Prozeß von Seiten der Eltern stark fördern. Doch der Mensch erhält eine zweite Chance: Was in der Kindheit verpaßt wurde, kann später in Beratung und Therapie nachgeholt werden. Individualpsychologische Beratung/Therapie ist auf Aktivität, Autonomie, Verantwortung und Zusammenarbeit ausgerichtet.

Nun wird auch deutlich, worin sich das Gemeinschaftsgefühl der Individualpsychologie vom Gemeinschaftsgefühl des allgemeinen Sprachgebrauchs unterscheidet: In der restlosen "Auflösung" von Polarität zu Gunsten eines übergeordneten größeren Ganzen.

Gemeinschaftsgefühl im landläufigen Sinn endet immer an einer Grenze einer bestimmten Gruppierung, die gleiche und auf sich selbst bezogene Interessen hat. Das können beliebige Teile der Gesellschaft sein, die Gesellschaft selbst, die Nation, Kultur, Rasse oder Religion.

Adler hat in seiner Lehre immer die gesamte Menschheit im Blickfeld. Er weist darauf hin, daß die Menschheit nur gemeinschaftlich überleben kann. Folglich reicht es ihm nicht, wenn in einer Gruppe von Menschen sich die Leute zugehörig fühlen und gemeinsame Interessen haben. Gemeinschaftsgefühl in Sinne der Individualpsychologie bedeutet die Identifikation mit dem Universum und die Überzeugung: Ich bin ein wertvoller Teil des Ganzen.

branke.com

Themenbereiche

Was ist Psychologie?

Psychologie für den Alltag