Psychologie

"Landkarten" zum gegenseitigen Verstehen

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Psychologie für den Alltag

Mut zur Unvollkommenheit

Ich darf auch Fehler machen!

Wer hat nicht schon einen (in seinen Augen) unverzeihlichen Fehler begangen und dann erleichtert festgestellt, daß doch nicht die ganze Welt eingestürzt ist, wie er es erwartet hatte? Die Einstellung "Ich darf Fehler machen" kann für uns eine große Erleichterung sein.

Warum ist dieser Mut zur Unvollkommenheit im Leben so wichtig? Dieser Frage bin ich nachgegangen. Meine Erkenntnisse, die ich dabei gewonnen habe, möchte ich Euch geme mitteilen: Unvollkommenheit läßt sich nicht ohne Vollkommenheit denken. Vollkommenheit aber kann verstanden werden als seinsmäßige Erfülltheit, als Ziel des menschlichen Lebens. Unser Lebensziel ist die Vollkommenheit. Am Anfang aber steht die Unvollkommenheit. Sie liegt darin gegründet, daß unser Seinkönnen noch nicht zur Verwirklichung gekommen ist. Unsere Aufgabe im Leben ist daher das Werden und Wachsen, die Selbstverwirklichung.

Ein Modell der Wirklichkeit:

Wenn der Mensch ins Leben tritt, ist sein Geist "substantielle Seinsempfänglichkeit", bloßes Seinkönnen, reine Möglichkeit, noch nicht qualitativ und quantitativ bestimmt. Mit seiner schöpferischen Kraft gestaltet der Mensch in sich ein Modell der Wirklichkeit. Je mehr er im Laufe seines Lebens Erkenntnis von der Wirklichkeil gewinnt, um so vollkommener wird er. Natürlich kann sich der Mensch in seiner Unvollkommenheit nicht auf Anhieb ein vollkommenes Modell der Wirklichkeit schaffen; es wird daher mit Irrtümern durchsetzt sein.

Die Individualpsychologie nennt dieses mit Irrtümern behaftetes Modell "Lebenstil". Mit der Bildung des Lebensstils beginnt der Mensch in einem Spannungsfeld zu leben: Einerseits gaukelt ihm seine "private Logik" eine scheinbare Realität vor, andererseits spürt er in sich den naturhaften drang zur Vollkommenheit. Er erlebt seine Situation als Minderwertigkeitsgefühl, der er durch Überlegenheitsstreben zu entkommen sucht. So kämpfen wir also mit uns und mit den anderen um weiter zu kommen, in Wirklichkeit aber bewegen wir uns nicht von der Stelle.

Das Beharren auf den einmal in uns aufgenommenen Irrtümern und damit auf den uns vertraut und vielleicht auch lieb gewordenen Vorurteilen, die uns in Sicherheit zu wiegen scheinen, wirkt wie eine Sperre gegen die Verwirklichung unserer Anlagen, weil sie unsere Erkenntnisfähigkeit behindern. Nur fällt es den meisten schwer, das zu erkennen. Dabei reicht es, wenn wir uns bewußt machen, daß wir in unserem Seinkönnen als vollkommenes Wesen geschaffen wurden, und daß wir uns selbst verwirklichen können, indem wir unsere Erkenntnisbilder mehr und mehr der Wirklichkeit anpassen.

Mit vom Wichtigsten ist der Glaube an unser wahres Selbst. Wir glauben heute zu wenig an uns und an unsere Möglichkeiten, uns zu ändern. Deshalb fällt es uns schwer, zu unserer Unvollkommenheit zu stehen Doch erst wenn wir loslassen können, wenn wir unsere Unvollkommenheit akzeptieren, ist Wachstum möglich. Erst dann kommen wir unserem Lebensziel näher. Daher ist Mut zur Unvollkommenheit für uns so wichtig.

aus: Die Meile, Mai 1987, Forum für den BLOCK Freundeskreis

Literatur: Josef Pieper, Die Wirklichkeit und das Gute

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